Der Zeitraum, den dieser zweite Band der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung umfasst, wurde von Albert Steffen und Rudolf Grosse geprÀgt. Steffen war bis zu seinem Tod 1963 Vorsitzender der Gesellschaft.
Mit ihm starb das letzte Mitglied des GrĂŒndungsvorstands, das von Rudolf Steiner berufen worden war. Solange er lebte, war der zweite groĂe Konflikt, der zu einer Sezession innerhalb der Gesellschaft gefĂŒhrt hatte, der Streit mit Marie Steiner und dem von ihr gegrĂŒndeten Nachlassverein um das geistige Erbe des GrĂŒnders von Gesellschaft und Bewegung nicht zu lösen.
In der von 1966 bis 1984 dauernden Ăra unter dem Vorsitz Rudolf Grosses versuchte die Gesellschaft, diesen Konflikt beizulegen. Der eingeschlagene Lösungsweg fĂŒhrte jedoch zu einer weiteren Sezession. Trotz ihrer internen Konflikte entfaltete die Anthroposophische Gesellschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Breitenwirkung. Die Kehrseite dieser Wirkung war die Frage, ob und wie die ihr anvertraute spirituelle Substanz bewahrt werden konnte. Sie löste eine Suche nach der eigenen IdentitĂ€t aus. Diese fĂŒhrte ab der Mitte der 1970er Jahre zur Konsolidierung des GrĂŒndungsmythos. Im Zentrum dieses Mythos standen die ErzĂ€hlungen ĂŒber die Stiftung der Gesellschaft durch die Weihnachtstagung 1923/24, das Fortwirken Rudolf Steiners in ihr und die Heilung des Karmas ihrer Mitglieder.
Aus dem Inhalt:
1953â1963: Ausbruch aus dem Elfenbeinturm
1964â1968: Von der »BĂŒcherfrage« zum »BĂŒcherbeschluss«
1969â1972: Fundamentalisten und Realisten
1973â1979: Anthroposophie im Aufschwung
1979â1982: Die Konsolidierung des GrĂŒndungsmythos
Rezensionen
Wer wir sind (in: Erziehungskunst)
Wer die Fortschreibung der Historie der Anthroposophischen Gesellschaft von Lorenzo Ravagli liest [...], der gelangt zu einer denkwĂŒrdigen Einsicht.
Es ist nichts anderes, woran diese Gesellschaft in ihrer hundertjĂ€hrigen Entwicklung krankt, als das, was sich jetzt zugespitzt als Zeitproblematik zeigt. Der gute Wille des einzelnen und die Schwierigkeit seiner zwischenmenschlichen Umsetzung. Mit den beiden Frageaspekten: wie kommen Impulse des einzelnen ins konkrete Handeln, sprich: vom Kopf in die HĂ€nde? Und wie kann der Vorgang der Verwirklichung so gestaltet werden, dass er zur gesellschaftlichen Einigung fĂŒhrt statt zur Spaltung?
Wie kann ausgerechnet die Anthroposophische Gesellschaft in ihrer zwischenmenschlichen SphÀre das versÀumen, was bekanntlich die Kernaussage der Philosophie der Freiheit bildet: »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im VerstÀndnisse des fremden Wollens«? Ganz offenbar liegt das Problem in der zweiten HÀlfte des Satzes.
[...] Was zum echten Leseabenteuer wird, ist die Geste zwischen Zentrum und Peripherie, niemals pedantisch, geradezu eurythmisch der Pendelschlag der vergleichenden Betrachtung: das anthroposophische Gesellschaftsleben wird jeweils im Kontext der gesamtgesellschaftlichen und weltpolitischen Ereignisse dargestelltâJahr fĂŒr Jahr. Was sich in den fĂŒnf Hauptkapiteln zeigt, ist einerseits die konkrete HandlungssphĂ€re, das sich entwickelnde Leben der anthroposophischen Bewegung in ihren sogenannten TochtergrĂŒndungen, andererseits umso stĂ€rker der Schattenwurf im Hinblick auf ihren eigenen Quell.
Nach wie vor und beinah gespenstisch zieht sich der Grundkonflikt, der direkt nach Rudolf Steiners Tod ausbrach immer weiter. Er wird fortgesetzt mit neuen Zuschreibungen und wechselndem Personal â wie ein schreckliches BĂŒhnendrama. Im sogenannten BĂŒcherkonflikt wiederholt sich â diesmal zwischen Vorstand und Nachlassverein â die alte Lagerbildung, in der eine Gruppe die andere bezichtigt nicht adĂ€quat mit der Wahrheit und Wirklichkeit von Anthroposophie zu verfahren. Auch in Band 2 arbeitet Ravagli die Wurzel des Konflikts heraus. FĂŒr Kenner: eine Neuauflage des mittelalterlichen Realismus/Nominalismus Streits. Im Klartext geht es darum: ob die anthroposophische Gesellschaft, ein fĂŒr alle Mal durch die Weihnachtstagung als esoterische Erbin eingesetzt, sich entsprechend qualifiziert erfĂ€hrt und damit jeglicher Bewegung des anthroposophischen Lebens ĂŒbergeordnet scheint? Mit dieser einen sind viele andere Fragen verknĂŒpft. Wer ist die Anthroposophische Gesellschaft als sinnlich/ĂŒbersinnliches Wesen? Der Vorstand als Herz der Mitgliedschaft oder ihr Haupt oder machen ihm nicht die Mitglieder eigentlich Beine?
Es ist nun einmal eine kuriose Situation. Kaum eine menschliche Gemeinschaft wird sich auf Erden in einer so seltsamen Lage befinden wie die Anthroposophische Gesellschaft. So klein und ĂŒberschaubar die Zahl ihrer Mitglieder, rund 50 000, dafĂŒr aber weltweit verstreut. In gigantischen machtvollen Welt-Projekten auf allen Lebensfeldern und in politischen Strukturangelegenheiten engagiert. [...]
Die Frage der Gleichheit und Freiheit ist das eine â das andere ist der Aspekt der BrĂŒderlichkeit auf der Rechtsebene. Die IdentitĂ€t dieser Gesellschaft wurde bekanntlich geschaffen durch die Umwidmung des damaligen Goetheanum Bauvereins da kurzfristig ein entsprechenden Eintrag im Handelsregister notwendig war. Auch dieser Konstitutionsstreit zwischen der Esoterik der Gesellschaft und der MerkwĂŒrdigkeit ihrer Konstitution ist zwar Ă€uĂerlich beigelegt, dauert aber im Innern der Bewegung an. Immer vor dem Hintergrund der beiden Strömungen.
Der Streit scheint wie ein magnetischer Kernpunkt, um den sich sogleich die EisenspĂ€ne lagern, hĂŒben wie drĂŒben â aktuell trĂ€gt sich wieder Ăhnliches in der Coronasache zu. Wenn wir das nicht endlich schaffen, aus dieser Lagerbildung herauszufinden, dann wird es zunehmend schwerer sich als Gesellschaft freier Geister darzustellen. Aufarbeitung der Vergangenheit- auch der bis heute andauernden â ist unvermeidlich. Nun wird der dritte Band, der sich mit der Entwicklung ab den 80er Jahren beschĂ€ftigt, bald erscheinen. Die meisten seiner zukĂŒnftigen Leser dĂŒrften echte Augenzeugen sein â das wird spannend.
Ute Hallaschka in Erziehungskunst November 2021
Rezension in "Das Goetheanum"
Lorenzo Ravagli hat im ersten Band »Selbsterkenntnis in der Geschichte. Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert« die Zeit von den AnfÀngen der Gesellschaft bis 1952 behandelt. Nun ist der zweite Band erschienen und behandelt die Zeit von 1952 bis 1982.
Mit tiefer Anteilnahme kann man anhand des umfassend dokumentierten Bandes die tragischen Konflikte von 1925 bis zum Tod von Marie Steiner-von Sivers 1948 begleiten, Konflikte, die sich an Rudolf Steiners Aussage anschlieĂen: »[...] dann waltet Karma«. Das war seine Antwort auf die Frage, wie es weitergehen wird, wenn sich die Freunde nach seinem Tod nicht auf gemeinsame Arbeit verstĂ€ndigen können.
Der zweite Band dieses Monumentalwerkes behandelt auf ĂŒber 500 Seiten die Zeit von 1952 bis 1982. Wieder ist viel Material mit groĂem FleiĂ und Sachkenntnis zusammengetragen. [...] Der Verfasser ist [...] nicht mehr nur Historiker, sondern nimmt selbst zu den Ereignissen Stellung. [...] Nun hĂ€lt der Verfasser seine Antipathie gegen das, was er Mystifizierung und Mythenbildung nennt, nicht mehr zurĂŒck. Er erinnert zwar daran, »dass dieser Begriff [Mythos] keinerlei abwertende Bedeutung besitzt, sondern auf die zentralen Vorstellungs- und Ideenkomplexe verweist, die eine soziale Gemeinschaft unter Menschen [...] konstituieren und deren SelbstverstĂ€ndnis und Lebenspraxis essenziell eingeschrieben ist«. Geht man allerdings auf Joseph Campbell, den Altmeister der Mythenforschung, zurĂŒck â Ravagli verweist in einer FuĂnote auf ihn â, so handelt es sich bei den mythischen Symbolen um »spontane Hervorbringungen der Psyche«. Psychoanalyse und insbesondere die Forschungen von C.G. Jung liegen diesem Mythos-Begriff zugrunde.
Diese Art der Betrachtung scheint die Arbeit von Ravagli zu prĂ€gen. Im Kapitel ĂŒber van Manens Buch [»Christussucher und Michaeldiener«] bezeichnet er die Karma-VortrĂ€ge Rudolf Steiners als »ReinkarnationserzĂ€hlungen«, als »sozialtherapeutische ErzĂ€hlungen« zuhanden der Mitglieder, die »sie dazu befĂ€higten, sich auf einer von Emotionen unbelasteten Ebene zu begegnen und das gesellschaftliche Zusammenleben entsprechend fruchtbar zu gestalten«. Die Erwartung in diese Therapieform habe sich aber durch die Entwicklung der Gesellschaft nicht erfĂŒllt. [...]
Man kann auf den dritten Band, der bis zum Jahr 2002 fĂŒhren soll, gespannt sein. Je weiter Ravagli in der Geschichte fortschreitet, desto mehr Menschen werden seine Arbeit, wie bereits beim zweiten Band, mit dem eigenen Erleben dieser Jahre in Verbindung bringen können.«
Hans Hasler in »Das Goetheanum«, 17.12.2021
Rezension in "Die Christengemeinschaft"
»Ravaglis Vergleich der Ă€uĂeren Fakten mit deren verschiedenen möglichen Deutungen ist lehrreich, besonders in Bezug auf die Dornacher Weihnachtstagung von 1923/24, in der Rudolf Steiner sich mit der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung auf allen Ebenen verband. Mit spĂŒrbar wachsender Distanz entdeckt Ravagli eine Ăberhöhung dieses Ereignisses durch fĂŒhrende Anthroposophen, die daraus ein Fortdauern der Gesellschaft und ihres Vorstandes ableiten, die ohne diesen âșMythosâč angesichts der andauernden und quĂ€lenden Streitigkeiten gefĂ€hrdet wĂ€re. ⊠Die inneranthroposophischen Debatten (oft mit einer fast unwirklichen Distanz zum sonstigen Zeitgeschehen) stehen auch in diesem Band II im Vordergrund; die individuellen LebensentschlĂŒsse und Leistungen treten demgegenĂŒber zurĂŒck. Als Ausnahmen gibt es einige Glanzpunkte: die GrĂŒndung des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke (die anderen Kliniken kommen kaum mehr vor), der UniversitĂ€t Witten-Herdecke, die Beziehungen zur ökologischen Bewegung aus dem Geist der 68er; trotz aller EinschrĂ€nkungen ist diese Darstellung fĂŒr den unverzichtbar, der sich mit Geschichte der Anthroposophie auseinandersetzen möchte.«
Frank Hörtreiter in »Die Christengemeinschaft« 4, 2022
Hier finden Sie die Rezensionen von Band 1