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Valentin Wember

Was will Waldorf wirklich?

Die unbekannte Erziehungskunst Rudolf Steiners

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Ein Vortrag fĂŒr Eltern und Lehrer

von Valentin Wember

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"Wenn man Forderungen aufstellt, wie ein Kind sein soll, kann man das leicht definieren. Wie die Kinder wirklich sind, das psychologisch zu erkennen, muss man sich in schwerem Studium erringen. Dies ist etwas, wovon ich meine, dass wir es (...) als eine Hauptsache betrachten: Verstehenlernen der Kinder. Sich gar nichts vornehmen, sie mĂŒssen so oder so sein." Rudolf Steiner


Inhalt
Einleitung

Teil 1 – Klarstellungen

1  Erfolg und Vorurteil
Fakten, Klischees und ein Misserfolg

2  In einem Satz nur
Oder in drei

3  Die Quelle der neue PĂ€dagogik
"Vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft"

Teil 2 – Entdeckungen

4  Das Wesen des Willens
Was heißt "Erziehung aus Menschenerkenntnis"?


5  Die Plazenta der Organe
Bodenoptimierung kommt vor Ernteerfolg


6  Die PrĂ€gung der Organe
Weichenstellungen der frĂŒhen Kindheit


7  Das erste pĂ€dagogische Hauptgesetz
Das Kind erzieht sich immer selbst


8  Warum Kunst?
Und warum wirklich Kunst?


9  Erziehung zur SelbstĂ€ndigkeit
Zwei Hinweise Steiners                      

10  "Born to change the world"
Waldorf und die Dreigliederung des sozialen Organismus


11 Die Leber-MentalitÀt freilegen
In Resonanz mit der Weisheit unseres Körpers


12 "Erziehung zur Freiheit"?
Eine wenig bekannte Bedeutung einer berĂŒhmten Formel

13 Zusammenarbeit mit den Engeln
Über eine integrative statt einer totalitĂ€ren Weltsicht


14 Die Erfindung neuer Methoden 
Das Triptychon pÀdagogischer Wirksamkeit

Teil 3 – Fragen

15  Was will Waldorf wirklich?
Warum von der Antwort Sein oder Nichtsein der Schulen abhÀngt


16  Wie leitet man eine Waldorfschule?
Und wie nicht?


17  Wie viel vom "Waldorf-Urbeginn"
ist heute noch in Waldorf drin?
Waldorf und die Waldorfschulen

18  Sind die Waldorfschule "freie" Schulen?
Nein !

19  Ist "Waldorf" eine Reform von vielen?
Oder mehr?


20  Gibt es ein wahres Leben im Falschen?
Ist das, was Waldorf wirklich will, heute noch machbar?


21 Und was will Waldorf nicht?
Über die Nierenfunktion in einem sozialen Organismus


22  Waldorf in den nĂ€chsten hundert Jahren?
Wie bereiten wir unsere Kinder auf das 21. Jahrhundert vor?

Teil 4   Anhang

23  Von wegen "entdecken"
Eine Schwierigkeit bei der Steiner-LektĂŒre


24  Steiners Forschungsmethode
Das Denken des Denkens (nicht der Gedanken) - Moralische Entwicklung - Studium der Organe


25  Die 10 000-Stunden-Regel
Anmerkungen zu Fleiß, Talent und zum Lernen von Rudolf Steiner

 

Leseprobe: 
Vorbemerkungen


Vorbemerkung 1

„Was will Waldorf wirklich?“ ist der Titel eines Vortrages, den ich 2018 und 2019 an verschiedenen Orten in Mitteleuropa (u.a. Berlin, MĂŒnchen, Stuttgart, Basel, ZĂŒrich) sowie in Sydney (Australien) und in Chengdu (China) gehalten habe. Das vorliegende Buch ist ein Autoreferat dieses Vortrages, allerdings mit einer Besonderheit: Im frei gehaltenen mĂŒndlichen Vortrag wurden in der Regel nur zwei (oder maximal drei) Beispiele zur Illustration der Erziehungskunst Steiners dargestellt, und zwar in verschiedenen StĂ€dten unterschiedliche Beispiele. In die Buchfassung wurden sĂ€mtliche Beispiele aufgenommen, die auf verschiedene StĂ€dte verteilt waren. Insofern ist das vorliegende Buch im zweiten Teil eine Zusammenstellung der unterschiedlichen mĂŒndlichen Fassungen. Das Gleiche gilt fĂŒr die Fragenbeantwortungen in Teil 3.

Anders verhĂ€lt es sich mit dem Anhang. Im Anhang geht es um methodenkritische Überlegungen zu der Frage, wie Rudolf Steiner zu seinen geisteswissenschaftlichen Entdeckungen zur PĂ€dagogik gekommen ist. Der Anhang hat also thematisch nichts direkt mit dem Buchtitel zu tun. Er kam dadurch zustande, dass ich bei meinen Darstellungen der PĂ€dagogik Rudolf Steiners auch mit EinwĂ€nden gegen Steiners Forschungsmethode konfrontiert worden bin, auf die ich zu antworten hatte.

Vorbemerkung 2

Wenn das Wort „Erziehen“ so verstanden wird, dass Kinder zu etwas gezogen werden sollen, dann wird „Erziehung“ ĂŒbergriffig. Rudolf Steiner verwendete den Ausdruck „Erziehen“ in einem anderen Sinn. Wörtlich: „Was man heranzieht, lĂ€sst man aber in seiner Wesenheit ungeschoren. Will man einen Stein aus dem Wasser ziehen, so zerschlĂ€gt man ihn nicht. Erziehung fordert nicht, dass man das Menschenwesen, das in die Welt hereintritt, in irgendeiner Weise zerschlĂ€gt oder vergewaltigt, sondern es heranzieht zu dem Erleben der Kulturstufe, auf der die Menschheit in dem Zeitpunkte steht, in dem dieses Menschenwesen heruntergestiegen ist aus göttlich-geistigen Welten in die sinnliche Welt.“(GA 308, 81)

 

Sehr verehrte Anwesende,

liebe Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen,


100 Jahre nach GrĂŒndung der ersten Waldorfschule geht es in diesem Vortrag um die unbekannteErziehungskunst Rudolf Steiners. Es geht darum, die Frage zu beantworten: Was will Waldorf wirklich? Die Betonung liegt dabei auf „wirklich“, und zwar deshalb, weil es immer noch gravierende MissverstĂ€ndnisse ĂŒber die PĂ€dagogik Rudolf Steiners gibt.

Die breite Öffentlichkeit kennt – mal mehr, mal weniger – vielleicht die Waldorf-Schulen und zuweilen hat man ein vages, zuweilen ein verzerrtes Bild von einigen Waldorf-Prinzipien: „Gibt es da nicht viel Kunst?“ Oder: „Ich habe gehört, dass dort Leistung nicht so sehr eine Rolle spielt“ oder: „Da soll doch das Kind im Mittelpunkt stehen“ oder „Es geht um die Dreiheit von Kopf, Herz und Hand“ oder „Da geht es mehr um KreativitĂ€t.“ Oder: „Da lernt man, seinen Namen zu tanzen.“  Mit derartigen Klischees sind weit verbreitete Vorurteile verbunden. Eine Waldorfschule – so eins dieser Vorurteile – sei gleichsam die „Soft-Version“ des öffentlichen Schulsystems und verhalte sich zu diesem wie die Bio-Landwirtschaft zur konventionellen: weniger giftig, aber auch weniger leistungsorientiert. Eine Demeter-Kuh darf ihre Hörner behalten und bekommt kein angereichertes Kraftfutter, muss aber auch weniger Milch liefern. Ähnlich ergehe es – so die Mutmaßung – den WaldorfschĂŒlern: Sie mĂŒssen nicht so viel Leistung bringen, aber sie dĂŒrfen etwas stress- und angstfreier lernen und ihre Hörner behalten.

So weit verbreitet das Vorurteil auch ist, so wenig entspricht es der Steinerschen Erziehungskunst. Im Werk von Steiner kann man das Gegenteil lesen:

    Jeder einzelne SchĂŒler soll das ihm mögliche Höchstmaß an denkerischer Klarheit entwickeln:
„Wir mĂŒssen (so erziehen), dass der Mensch die ihm fĂŒr das Leben höchste mögliche Klarheit im Denken (erringt).

    Jeder einzelne SchĂŒler soll das ihm mögliche Höchstmaß an Vertiefung und Differenziertheit des FĂŒhlens entwickeln.
„Wir mĂŒssen (so erziehen), dass der Mensch (...) im FĂŒhlen die nach seinen Voraussetzungen fĂŒr ihn denkbar höchste liebevolle Vertiefung (erringt).“

    Jeder einzelne SchĂŒler soll das ihm mögliche Höchstmaß an Willenskraft entwickeln.
„Wir mĂŒssen (so erziehen), dass der Mensch im Wollen die nach seinen Voraussetzungen höchste mögliche Energie und TĂŒchtigkeit erringe.“ (GA 309,40)

Es geht in der Steinerschen Erziehungskunst also nicht um die weichere Variante des staatlichen Schulsystems, sondern um etwas völlig anderes. Aber davon weiß man immer noch viel zu wenig. Und das ist erstaunlich. Denn auf der einen Seite kann die Waldorfschulbewegung beachtliche Erfolge vorweisen, aber auf der anderen Seite steht auch ein gravierender Misserfolg. ZunĂ€chst zu den Erfolgen, danach zum Misserfolg. Bei den Erfolgen beziehe ich mich ausschließlich auf sogenannte „harte Fakten“ und beschrĂ€nke mich auf drei Beispiele:


Die Ausbreitung von 1 auf 1000


In nur hundert Jahren ist aus einer einzigen innovativen Schule eine weltweite Schulbewegung entstanden mit ĂŒber 1200 Schulen in mehr als 60 LĂ€ndern. Das ist auf dem Sektor der Privatschulen ziemlich einzigartig und ein großer Erfolg.

Die Waldorfschulen waren Methoden-Pioniere


Etliche Methoden, die erstmalig von der Stuttgarter Waldorfschule angewandt wurden, haben inzwischen Eingang in die staatlichen Schulsysteme verschiedener LĂ€nder gefunden. Nur wenige Beispiele: Die Waldorfschulen haben den konzentrierenden „Block“- oder „Epochenunterricht“ eingefĂŒhrt.Das gibt es inzwischen auch an vielen staatlichen Schulen, mal mehr, mal weniger. Weiter:  Die Waldorfschulen haben das Sitzenbleiben abgeschafft und statt der Notenzeugnisse charakterisierende Textzeugnisse eingefĂŒhrt. 2009 zeigte eine Bertelsmann-Studie, dass das „Sitzenbleiben“ wenig bringt, aber teuer ist.[iii]In einigen LĂ€ndern sind deshalb inzwischen im Grundschulbereich Notenzeugnisse durch Textzeugnisse ersetzt worden und das Sitzenbleiben wurde in der Grundschule in etlichen LĂ€ndern abgeschafft.

Weiter: Die Waldorfschulen hatten von Anfang an einen hohen Anteil an kĂŒnstlerischen und handwerklichen FĂ€chern. Auch auf diesem Gebiet hat sich viel an den staatlichen Schulen getan und der Anteil an Kunst ist betrĂ€chtlich gestiegen. Die Waldorfschulen hatten hier eine Pionierfunktion. Auf der anderen Seite beklagt der wohl bekannteste Erziehungswissenschaftler der Welt, Sir Ken Robinson, immer noch, dass der Anteil von Kunst und BewegungsfĂ€chern an den staatlichen Schulen nach wie vor viel zu gering sei. Vor allem in den Köpfen der Menschen sĂ€he das Ranking der FĂ€cher immer noch ganz traditionell aus: Hoch oben im Ranking stehen die naturwissenschaftlichen FĂ€cher, die Mathematik und die Sprachen. Viel weiter unten stehen sogenannte NebenfĂ€cher wie Kunst oder Theater und Tanz. Dieses Ranking ist so verbreitet, dass es auch in den Köpfen von Waldorflehrern und SchĂŒlern fest eingenistet ist. In den Waldorfschulen gibt es den internen Ausdruck „Hauptunterricht“ und nicht wenige Lehrer und SchĂŒler denken: „Hauptunterricht – das sind die wichtigsten FĂ€cher.“ (Denn zum „Hauptunterricht“ gehören die naturwissenschaftlichen FĂ€cher, sowie die Mathematik und die geisteswissenschaftlichen FĂ€cher wie Geschichte und Deutsch.) Bei Rudolf Steiner kann man nachlesen, dass das ein MissverstĂ€ndnis ist. Die wirkliche Bedeutung von „Haupt-Unterricht“ ist „Kopf-Unterricht“. Der Ausdruck „Haupt-Unterricht“ meint also nicht die wichtigsten FĂ€cher. Die englische Übersetzung von „Hauptunterricht“ in „Mainlessons“ ist deshalb nicht nur irrefĂŒhrend, sondern schlechterdings falsch. Die korrekte Übersetzung wĂ€re: „Head-Lessons“. AlleFĂ€cher sind bei Steiner gleich wichtige FĂ€cher und wĂ€ren in diesem Sinne „Main-Lessons“. Und wenn wir schon dabei sind: Bei Steiner gibt esdreiGruppen von FĂ€chern: Diejenigen FĂ€cher, die vornehmlich (aber nicht nur) die kognitiven FĂ€higkeiten adressieren. Sie werden im „Haupt-Unterricht“ gegeben. Damit sollte, so Steiner, der Tag beginnen. Zweitens gibt es diejenigen FĂ€cher, die vornehmlich das rhythmische System des Menschen ansprechen, also den Atem- und Herzrhythmus. Dazu gehören Singen, Rezitieren, Sprechen und andere kĂŒnstlerische FĂ€cher. Und drittens gibt es diejenigen FĂ€cher, die sich vornehmlich an das Bewegungssystem des Kindes wenden: Tanz, Turnen und der handwerkliche Unterricht vom Stricken und NĂ€hen bis hin zum Schmieden, Schreinern und Schlossern. Mit diesen FĂ€chern sollte der Schultag möglichst schließen – zumindest im Idealfall. Dass alle drei FĂ€chergruppen gleich wichtig sind und vor allem gleich viel Zeit im Stundenplan erhalten sollten, ist immer noch revolutionĂ€r: „Ein Drittel Kopf-Unterricht, ein Drittel Kunst-Unterricht (Musik, Malen, Rezitieren, Theater, Bildhauern etc.) und ein Drittel Bewegung (Tanz, Eurythmie, Gymnastik, handwerkliche FĂ€cher). Aber selbst in den Waldorfschulen ist es nicht leicht, diese Gewichtung durchzuhalten, auch wenn sich an den staatlichen Schulen einiges getan hat im Vergleich zu 1919. Unter dem Strich ist es deshalb ein Erfolg der Waldorfschulen: Sie waren und sind auf diesem Feld Pioniere und beweisen immer noch, dass man die staatlichen AbschlĂŒsse vom Realschulabschluss bis hin zum Abitur mindestens genauso erfolgreich bewĂ€ltigen kann, auch wenn man sehr viel mehr Zeit fĂŒr Kunst- und Handwerksunterricht gehabt hat. Der wirklicheGrund fĂŒr den hohen Anteil an Kunst an den Waldorfschulen ist allerdings kaum bekannt. Ich werde spĂ€ter darauf eingehen. (Kapitel 8.)

Die Pionierfunktion der Waldorfschulen auf dem Gebiet pĂ€dagogischer Methoden wird in Fachkreisen durchaus anerkannt. Aber es gibt auch eine erstaunliche Kehrseite: Die Waldorfmethoden waren wie ein paar goldene Äpfel, die man aufgelesen hat. Der Baum aber, an dem sie gewachsen sind, galt und gilt als suspekt – ganz nach der Devise „Netter Apfel, inakzeptabler Baum“.

Die Gesundheit ehemaliger WaldorfschĂŒlerinnen und SchĂŒler


Einer der grĂ¶ĂŸten Erfolge der Waldorfschulbewegung besteht in der langfristig besseren Gesundheit ihrer Absolventen. Das Robert-Koch-Institut in der CharitĂ© in Berlin hat 2013 eine Studie veröffentlicht, die die Gesundheit von ehemaligen WaldorfschĂŒlern im Alter von 18 bis 80 Jahren mit der Gesundheit der entsprechenden Altersgruppen ehemaliger StaatsschĂŒler vergleicht. Ein derartiger Vergleich ist methodisch aufwendig. FĂŒr einen aussagekrĂ€ftigen Vergleich können zum Beispiel nur SchĂŒler aus ElternhĂ€usern mit dem gleichen Bildungsstand verglichen werden, da der Bildungsstand der Eltern eine erhebliche Rolle fĂŒr die spĂ€tere Gesundheit der Kinder spielt. Man darf – ein weiteres Beispiel – auch nur solche ehemaligen SchĂŒler vergleichen, die Ă€hnliche Berufe ergriffen haben. Es gibt Berufe, die ungesĂŒnder sind als andere. (Wenn die WaldorfschĂŒler im Durchschnitt lauter gesĂŒndere Berufe ergriffen hĂ€tten als die ehemaligen staatlichen SchĂŒler, dann lĂ€ge die bessere Gesundheit der Waldorf-Alumni nicht an der PĂ€dagogik der Waldorfschule, sondern an der Berufswahl.) Kurz, die Wissenschaftler, die die Studie aufgesetzt haben, haben tatsĂ€chlich nur verglichen, was methodisch korrekt verglichen werden darf. Das Ergebnis: In den allermeisten Gesundheitskriterien waren die ehemaligen WaldorfschĂŒler signifikant gesĂŒnder. Das ist keine Kleinigkeit, sondern ein echter Erfolg. Ich persönlich halte ihn fĂŒr einen der bedeutsamsten Erfolge der Waldorfschulen schlechthin. Warum? Gesundheitlichen BeeintrĂ€chtigungen bedeuten meist auch eine BeeintrĂ€chtigung der LeistungsfĂ€higkeit – mal mehr, mal weniger. (Das weiß nicht nur jeder Sportler.) Gezielt so zu erziehen und zu unterrichten, dass der Einzelne auch in fortgeschrittenem Alter etwas weniger durch gesundheitliche Handicaps beeintrĂ€chtigt wird, gehört mit zum dem, was Waldorf wirklich will. Den Erfolg auf diesem Gebiet messen und nachweisen zu können – das ist ein dickes Brett. Aber dieses dicke Brett ist – wie so Vieles aus der Erziehungskunst Rudolf Steiners – nur wenig bekannt.


Die Waldorfschulen können also auf der einen Seite nach 100 Jahren Bemerkenswertes vorweisen und zu Recht feiern. Aber auf der anderen Seite steht ein Misserfolg, vor dem man nicht die Augen verschließen sollte: Es ist es in 100 Jahren nicht gelungen, der Öffentlichkeit ein auch nur annĂ€hernd angemessenes Bild von dem zu verschaffen, was Waldorf wirklich will. Wenn dieser Vortrag einen Beitrag dazu leistet, diesen Sachverhalt in ersten AnsĂ€tzen zu Ă€ndern, hat er seinen Zweck erfĂŒllt.


In einem Satz nur oder in drei kann man in einem oder zwei SÀtzen sagen, was Steiners zentrales pÀdagogisches Anliegen war und was die Erziehungskunst Rudolf Steiners wirklich will? Man kann. In drei SÀtzen.


Satz 1:


„Es geht darum, zu allererst so grĂŒndlich, so umfassend und so tief wie nur irgend möglich die Natur des Menschen und seine Stellung in der Welt und insbesondere die Natur des Kindes und seine Entwicklung zu erforschen, um vor allem daraus abzulesen, wie man jedes einzelne Kind so gut wie nur irgend möglich darin unterstĂŒtzen kann, seine individuellen Potentiale zu entwickeln, sodass es seine eigene Aufgabe und seinen Beitrag fĂŒr das Ganze und im Einklang mit dem Ganzen finden kann.“


Mit sieben Worten:
„Bestmögliche Potentialförderung aus grĂ¶ĂŸtmöglicher Menschen- und Welterkenntnis.“


Oder noch pointierter:
„Zuerst Menschenerkenntnis – dann pĂ€dagogische Maßnahmen.


Mit drei Worten:
„Erziehung aus Menschenerkenntnis“


Plakative Schlagworte sind heikel. Sie zeigen nicht, was sich hinter ihnen verbirgt. Denn was heißt „Erziehung aus grĂ¶ĂŸtmöglicher Menschen- und Welterkenntnis?“ Solange das nicht geklĂ€rt ist, unterschĂ€tzt man, worum es wirklich geht.


Satz 2:


Optimale Potentialförderung aus grĂ¶ĂŸtmöglicher Menschenerkenntnis ist nur möglich, wenn man die Ergebnisse spiritueller Forschung nicht nur miteinbezieht und berĂŒcksichtigt, sondern zur Grundlage macht.


Mit fĂŒnf Worten:
Bestmögliche Potentialförderung aus spiritueller Menschenerkenntnis.


Oder mit sieben:
Optimale Potentialförderung aus anthroposophischer Menschen- und Welterkenntnis.


Oder zugespitzt:
Erst Menschenerkenntnis aus spiritueller Erforschung der Kindesnatur, dann Erfindung neuer Methoden fĂŒr das einzelne Kind und fĂŒr jede sich verĂ€ndernde Zeitlage.


Plakative Schlagworte sind heikel und Satz 2 ist noch heikler als Satz 1. Spirituelle Menschenerkenntnis? Anthroposophische Welterkenntnis? Wirklich? Ja. Es ist eine Frage historischer Redlichkeit, darĂŒber zu sprechen, worum es Steiner ging. Wie man sich anschließend dazu positionieren will, ist eine andere Frage und jedem ĂŒberlassen. Nur eins sollte man möglichst vermeiden: Wichtige Wahrheiten verschweigen. Das ist – auf Dauer gesehen – keine gute Idee.


Und nun noch Satz drei, denn ohne ihn fehlt das Wichtigste:


Satz 3


„Das Kind erkennen wollen - aus Liebe zum Kind,
neue Methoden erfinden - aus Liebe zum Kind,
neu erfundene Methoden anwenden - aus Liebe zum Kind –
das ist, was Waldorf wirklich will.“


Plakative Schlagworte sind heikel und Satz 3 klingt fĂŒr viele Ohren noch weitaus heikler als Satz 1 und 2 zusammen.
Trotzdem: FĂŒr die WaldorfpĂ€dagogik gilt mit leicht abgewandelten Worten, was der Apostel Paulus im Brief an die Korinther geschrieben hat:
„Und wenn ich die besten pĂ€dagogischen Methoden hĂ€tte, sodass ich Berge versetzen könnte, und hĂ€tte der Liebe nicht, so wĂ€re meine PĂ€dagogik nichts.“ (Nach 1. Kor. 1)

1. Auflage Juli 2019

250 Seiten

Paperback

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